B. Fontana: La République helvétique

Cover
Titel
La République helvétique. Laboratoire de la Suisse moderne


Autor(en)
Fontana, Biancamaria
Reihe
Savoir Suiss
Erschienen
Lausanne 2020: Presses polytechniques et universitaires romandes
Anzahl Seiten
160 S.
von
Sebastian Brändli

Die Helvetische Republik genauer anzusehen und neu zu überdenken – das ist eine gängige Begründung für die Beschäftigung mit der streitbaren, und historisch entsprechend umstrittenen Phase der Schweizer Geschichte 1798–1803. Biancamaria Fontana, emeritierte ordentliche Geschichtsprofessorin der Universität Lausanne, stützt sich in ihrem kleinen Band zur Helvetischen Republik auf diese Begründung. Sie meint sogar, die Phase sei «un épisode mal connu, voire presque oublié, de l’histoire nationale» (S. 9). Das gilt sicher für das 19. und auch für einen grossen Teil des 20. Jahrhunderts. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts hat sich das Interesse an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbruchszeit allerdings erfreulicherweise verstärkt, so dass das Narrativ des «Fast-Vergessenen» nicht mehr ganz angebracht ist. Seit mit Rudolf Brauns «Ancien Régime» (Kapitel «Vorboten der grossen Wende»)1 und Holger Bönings «Revolution in der Schweiz» 2 das Thema wieder entdeckt worden war, sind doch einige erhellende neue Studien zur helvetischen Periode, zu Ereignis- und Sozialgeschichte gleichermassen, erschienen. Was den Rezensenten als Deutschschweizer aber am vorzustellenden Buch besonders interessierte, war die Aussicht auf eine neue welsche Sicht auf die Helvetik, weshalb er zur Lektüre ansetzte.

Wer vom Buch in diesem Sinne erwartet, mehr von der Schweiz in der Zeit der Helvetischen Republik zu erfahren, wird allerdings enttäuscht. Der Titel nimmt zwar Bezug auf die Helvetische Republik, und auch der Untertitel weist mit seiner Laborfunktion für die moderne Schweiz kaum auf einen anderen Fokus hin. Aber Fontana versteht unter Helvetischer Republik nicht eine soziale Wirklichkeit, auf der Basis eines rechtlichen Fundaments (in diesem Falle der ersten modernen Verfassung der Schweiz). Vielmehr reduziert sie ihr Interesse auf die Verfassung selbst, auf den formulierten und forcierten Verfassungsauftrag – ungeachtet, wie die Verfassungswirklichkeit, und dahinter das reale Leben der Menschen, aussah, ungeachtet auch, dass die (erste) helvetische Verfassung formell kaum mehr als zwei Jahre in Kraft war. Was die Studie herausarbeitet, ist aber eine historische – vor allem auch ideengeschichtliche – Erklärung der helvetischen Verfassung vom April 1798. Sie erklärt und erläutert im Wesentlichen die Bezüge des helvetischen Grundgesetzes zu den französischen Verfassungen, insbesondere zu jenen von 1791, 1793 und 1795 sowie zu allfälligen Debatten, die gewisse Unterschiede zwischen den Verfassungen erhellen.

Dieses eingeengte Interesse wird zwar dem im Titel evozierten Anspruch nicht gerecht, bringt aber dafür besser als in anderen Studien ans Licht, wie einzelne Abweichungen der helvetischen Verfassung von den französischen Vorgängern zu erklären, allenfalls zu interpretieren sind. Und: Aus diesen Abweichungen werden für einzelne Fragen auch Themen angesprochen, die über die Helvetik hinaus in der eidgenössischen Staats- und Verfassungsentwicklung eine grosse Rolle spielten und noch immer spielen. In diese Kategorie der «wesentlichen Differenzen» der schweizerischen Verfassungen zu den übrigen republikanischen Modellen gehören vor allem die Ideen der Kollegialregierung («l’exécutive collégiale»), des Kantons- und Gemeindeföderalismus («I’autonomie des localités») und der direkten Demokratie. Mindestens in diesen drei Punkten ist das republikanische Modell der Schweiz bis heute weltweit unikal: Kein Land kennt von seiner Verfassung her so viele Elemente einer kollegialen Verantwortung für das Regieren, keines einen dermassen ausgeprägten Föderalismus, kaum eines bietet so vielen Elementen einer direkten Demokratie Raum wie die heutige Eidgenossenschaft mit ihren Kantonen und den Gemeinden. Der vorliegende Band arbeitet diese Themen an der helvetischen Verfassung von 1798 ab, zeigt deren Differenzen zu französischen Revolutionsverfassungen und interpretiert in der Darstellung wichtiger Elemente der Mediationsverfassung 1803 das Konservieren einzelner Settings über die Helvetik hinaus – teils bis zum Bundesstaat, teils sogar bis zu heutigen aktuell diskutierten politischen Fragen.

Die Leserschaft profitiert von diesen – fast rechtshistorischen – Spezialuntersuchungen viel. Fontana ist eine ausgewiesene Republikforscherin, die es erstens schafft, die für die helvetische Verfassung gewählten (oder verworfenen) Verfassungslösungen in eine generelle Entwicklung bzw. Konzeption von Republik einzubetten. Zweitens wird dem Deutschschweizer Leser durch den intensiven Vergleich mit den französischen «Vorbildern» bewusst, wie nah der welsche Blick – nur schon wegen der gemeinsamen Sprache – der Situation in Paris kommen kann (auch wenn zur Deutschschweizer Ehrenrettung gesagt werden darf, dass sich Fontana in vielen Argumentationen auf die Ausführungen des Zürcher Ordinarius und Verfassungshistorikers Alfred Kölz stützt, der vor allem für den ersten Band seiner Schweizerischen Verfassungsgeschichte monatelang in Pariser Archiven forschte).1 Drittens bringt Fontana einige Widersprüchlichkeiten zur Sprache, die in ihrer historischen Wirkung das Schweizer Modell präzisieren und vielleicht auch international verständlicher machen. Höhepunkt dieser Argumentation ist der Abschnitt über «Napoléon, le paladin de la démocratie directe». Die Berater Bonapartes, vor allem der Elsässer Jurist Roederer, verlangten im Sinne einer Modernisierung der antiken Republik durch die Spätaufklärung (nach der Amerikanischen und der Französischen Revolution) die Abschaffung einzelner «traditioneller republikanischer Elemente», so vor allem der aristokratisch anmutenden Landsgemeinden der innerschweizer Kantone. Der Erste Konsul widersetzte sich indessen dieser Forderung und argumentierte (gemäss glücklicherweise erhaltenen Protokollen) mit einer trotz Revolution zu erhaltenden traditionellen republikanischen Qualität: «L’identité de la Suisse repose forcément sur la présence de ses institutions démocratiques» (S. 129).

So hat sich die Lektüre – trotz anfänglich falsch geweckter Erwartungen – sehr gelohnt. Vor allem für den sonderbaren Zusammenhang von Demokratie und Föderalismus im schweizerischen Verfassungssystem bringt die Studie interessante und bedenkenswerte Hinweise. Die Beiträge der helvetischen und der Mediationsverfassung gehen weit über die anekdotische Stellung, die den beiden Perioden in der Schweizergeschichte in der Regel zuerkannt wird, hinaus und sind auch in der heutigen Verfassungsdiskussion und -wirklichkeit von grosser Bedeutung

1 Rudolf Braun. Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Göttingen 1984, S. 256–313.
2 Holger Böning. Revolution in der Schweiz, Frankfurt a. M. 1985.
[6] Alfred Kölz. Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Ihre Grundlinien vom Ende der Alten Eidgenossenschaft bis 1848, Bern 1992.

Zitierweise:
Brändli, Sebastian: Rezension zu: Fontana, Biancamaria: La République helvétique. Laboratoire de la Suisse moderne, Lausanne 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 298-299. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.

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